Im Zuge der Digitalisierung der Arbeitswelt fallen immer mehr Daten über Beschäftigte und individuelle Arbeitsprozesse an. Das Bundesforschungsministerium fördert das Projekt „Inverse Transparenz“, das beteiligungsorientierte Ansätze für Datensouveränität in der digitalen Arbeitswelt gestalten will.
Wie solche Lösungsansätze aussehen können, erklären die Forschenden Prof. Dr. Andreas Boes, Barbara Langes und Dr. Tobias Kämpf vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München) in ihrem Gastbeitrag anlässlich des Wissenschafts-Praxis-Dialogs „Transparenz in der digitalen Arbeitswelt. Zwischen gläsernem Mitarbeiter und neuen Chancen für Empowerment“. Bei der Veranstaltung am 20. Februar am Bayerischen Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt) in München diskutieren die Forschenden ihren Lösungsansatz mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
Gastbeitrag von Prof. Dr. Andreas Boes, Barbara Langes und Dr. Tobias Kämpf, Mitarbeit: Dr. Jutta Witte (ursprünglich ist der Beitrag erschienen im Blog https://idguzda.de/blog/transparenz-in-der-digitalen-arbeitswelt):
Die Diskussion um Datenschutz und Datensouveränität nimmt gegenwärtig an Komplexität und Brisanz zu. Zugespitzt lautet die Frage: Wie schaffen wir es, angesichts der wachsenden datenbasierten Transparenz einerseits Daten zu schützen und andererseits die intelligente Nutzung von Daten zu ermöglichen, um diese in den Dienst von Innovation und Wertschöpfung stellen zu können? In einer Situation, in der die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) auf den Prüfstand kommt, die Bundesregierung und die Europäische Kommission mit Hochdruck an Datenstrategien arbeiten und Unternehmen an der Schwelle zur Informationsökonomie stehen, sehen sich die Akteure aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Datenschutz einem scheinbaren Gestaltungsdilemma gegenüber.
In der aktuellen Gemengelage droht der Datenschutz zum Zankapfel zu werden zwischen denen, die – das Überwachungs- und Kontrollpotenzial der neuen Transparenz vor Augen – mehr Konsequenz durch Datensparsamkeit und Einschränkungen in der Datenverarbeitung fordern, und denen, die mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die Konkurrenz aus den USA und China für Lockerungen plädieren. Dass persönliche Daten den höchsten Schutz brauchen, ist nicht verhandelbar. Wer allerdings einen unauflösbaren Widerspruch zwischen konsequentem Datenschutz und einer zukunftsorientierten Wertschöpfung unterstellt, manövriert sich in eine Sackgasse. Denn beides ist unverzichtbar, wenn Europa den Übergang in die Informationsökonomie erfolgreich gestalten will. Wir brauchen also einen neuen Ansatz, der beide Ziele vereint.
Genau hier docken wir mit unserem interdisziplinären Projekt „Inverse Transparenz“ an – einem Verbund starker Forschungspartner, die an Wegen aus dem vermeintlichen Gestaltungsdilemma arbeiten. Wir schauen in den „Maschinenraum“ der digitalen Wertschöpfung, analysieren die Folgen der neuen datenbasierten Transparenz für die Arbeitswelt und entwickeln gemeinsam mit den Beteiligten in den Unternehmen Konzepte für einen wirksamen Beschäftigtendatenschutz als Nukleus neuer Innovationsprozesse.
Mit unserem Verbundprojekt adressieren wir die Schlüsselfrage der gegenwärtigen Transformation: den Paradigmenwechsel zur Informationsökonomie. VW-Konzernchef Herbert Diess hat erst vor kurzem in einer „Brandrede“ vor Führungskräften angedeutet, dass er die Zukunft seines Unternehmens und der Industrie insgesamt in der Schaffung datenbasierter Innovationskulturen und Wertschöpfung sieht. Das genau ist der Knackpunkt: Wer die aktuellen Gestaltungsherausforderungen nachvollziehen und bewältigen möchte, muss verstehen, wie in der Informationsökonomie Innovationen und Wertschöpfung funktionieren und was dies für die arbeitenden Menschen bedeutet. Die neue Wertschöpfung begnügt sich nicht mit der Produktion von Produkten, sondern nutzt die Daten über deren Gebrauch durch die Kunden für eine kontinuierliche Verbesserung. Aus diesem Daten-Rohstoff machen Menschen, unterstützt von digitalen Technologien, im zweiten Schritt nützliche Informationen. Diese Informationen – und nicht die Daten – sind die Basis, um darauf aufbauend Innovationen von Produkten und Leistungen zu erzeugen und diese zielgerichtet und zeitnah zu verbessern. Die moderne Wertschöpfung basiert also auf Daten und bewegt sich in einem Modus der permanenten Innovation. Die Beschäftigten, die in einer ständigen Lernkultur ihre Arbeit verrichten, legen hierfür die Grundlage.
Veranschaulichen wir dies am Beispiel des Navigationssystems Google Maps. Herkömmliche Navigationssysteme werden programmiert und zusammen mit dem Kartenmaterial auf das Navigationsgerät in den Autos aufgespielt. Dort veralten sie allmählich, bis sie unbrauchbar werden. Aktuelle und exakte Informationen über Staus oder Straßensperrungen enthalten sie nicht. Demgegenüber nutzt Google Maps die Daten der Kunden, die diese freigegeben haben, um bei der Navigation Echtzeitdaten über diese Verkehrshindernisse zur Verfügung zu stellen, und kann auf dieser Basis vergleichsweise valide Aussagen über Fahrtdauer und Hindernisumfahrungen machen. Diese Daten wiederum nutzt das Unternehmen, um dem Produkt immer wieder neue Leistungsmerkmale hinzuzufügen und es mit anderen Produkten – beispielsweise Empfehlungen bezüglich Sehenswürdigkeiten – zu verknüpfen. So entsteht in einem Prozess der permanenten Erneuerung ein Produkt- und Leistungsangebot, das zeitnah und fortwährend seine Gebrauchsmöglichkeiten erweitert. Es liegt auf der Hand, dass die so gewonnenen Daten nicht nur eine Grundlage für verbesserte Produkte darstellen, sondern auch für die Kontrolle der Nutzer.
Die aus Daten generierten Informationen ermöglichen es Unternehmen, ihre Kunden, Mitarbeitenden und Partner im Wertschöpfungssystem in nie dagewesenem Ausmaß zu kontrollieren. Die mit den Daten gewonnene Transparenz lässt sich beispielsweise über Bewegungsprofile zur verbesserten Verkehrssteuerung und ebenso zur lückenlosen Überwachung, zur Vorhersage menschlichen Verhaltens und im Extrem sogar zur Verhaltenssteuerung nutzen. Genau diese Ambivalenz der Transparenz erleben wir in verstärktem Maße in der Arbeitswelt. Nimmt man das spezielle Abhängigkeitsverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Blick, bekommt diese Entwicklung für die Gestaltung der Arbeitswelt eine besondere Brisanz. Können Kunden mit einem nicht gesetzten Häkchen oder dem Abschalten einer App dem Tracking entgehen, gibt es für Beschäftigte, die sich mit ihrem Arbeitsvertrag dem Direktionsrecht ihrer Vorgesetzten unterwerfen, kaum ein Entrinnen. Das macht das Thema Datenschutz und Datensouveränität in der Arbeitswelt nicht nur so kompliziert. Diese Entwicklung bahnt auch neuen Formen der Kontrolle den Weg. In unserer Forschung beobachten wir Kontrollstrategien wie den „Taylorismus 2.0“, die das Wissen über den Arbeitsprozess radikal beim Management zentralisieren, um es für kleinmaschige Arbeitsvorgaben an die Beschäftigten zu verwenden, die dann häufig noch per App kommuniziert werden. Oder wir sehen neuartige Formen der Verhaltenssteuerung von scheinbar autonom handelnden Beschäftigten, die in einem „System permanenter Bewährung“ ihre Gesundheit gefährden, weil sie sie nur so meinen die Zielvorgaben erfüllen zu können.
Man sieht also: Transparenz ist janusköpfig. Sie ist die Grundlage für die Innovationskulturen moderner Wertschöpfung, sie kann aber auch die Basis einer neuen Beherrschungskultur sein. Dies auszublenden wäre kurzsichtig. Neue Innovationskulturen zu fördern bedeutet, datenbasierte Innovationskulturen zu schaffen, ohne die Schutzrechte der Menschen zu verletzten. Dies ist ein Gestaltungsproblem, das nicht nur Datenschützer, Betriebsräte und Unternehmen, sondern auch die Politik vor neue Herausforderungen stellt. Die Bundesregierung macht in ihrem Eckpunktepapier zur Datenstrategie deutlich, dass sie den verantwortungsvollen Umgang mit Daten im Kontext einer „offenen Innovationskultur“ sieht. Ihr Ziel ist die Gestaltung einer digitalen Zukunft, „der die Menschen vertrauen können“ – durch technische Maßnahmen, die die Menschen schützen, aber auch durch das Befähigen der Menschen zu einem selbstbestimmten, kompetenten, unabhängigen und sicheren Agieren in der digitalen Welt. Das kann man nur unterschreiben.
Aber wie lösen wir dieses Problem? In unserer Forschung haben wir gelernt, dass wir Innovationskulturen und Datenschutz zusammendenken müssen. Mit dem Projekt Inverse Transparenz wollen wir dazu beitragen, diesen Anspruch in der digitalen Arbeitswelt zu verwirklichen – mit praktikablen Lösungen, die eine Win-win-Situation herstellen zwischen Datenschutz-, Wertschöpfungs- und Innovationsinteressen. Die Lösung gründet auf der Erzeugung einer lebendigen Vertrauenskultur. Diese basiert auf vier eng miteinander verkoppelten Prinzipien und muss sich in der gelebten Praxis immer wieder erneuern: Erstens, die Herstellung gleicher Transparenz für alle, die technisch durch ein Tool zur fälschungssicheren Protokollierung des Umgangs mit Daten abgesichert ist; zweitens, die qualifizierte Beteiligung und Befähigung von Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung im Gestaltungsprozess; drittens, eine neue Führungskultur; und viertens die Absicherung durch gemeinsam definierte kollektive Rechte und Regeln. Die dadurch erzeugte Vertrauenskultur ist die unverzichtbare Voraussetzung, damit Beschäftigte und Führungskräfte einen empowerten Umgang mit Daten leben und diese als Rohstoff in modernen Innovationskulturen nutzen können.